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Netzwerk – Begegnung e. V.

„Ach, echt – „die“ haben ja auch solche Bedürfnisse?!“

Dies ist eine häufige Reaktion von Menschen, die in ihrem Leben keinerlei Einschränkungen unterliegen, wenn es um das Thema „Behinderung oder Alter“ und „Körperlichkeit und Sinneserlebnis“ geht. Meist ist nicht böse gemeinte Gedankenlosigkeit der Grund für ein solches Aha- Erlebnis. Menschen, die ihr Leben uneingeschränkt leben können, vergessen oftmals, dass nicht alle Menschen so viel Glück haben. Sie vergessen oder verdrängen, dass Behinderte und ältere Menschen dasselbe Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichkeit, Zuneigung und eben auch das Bedürfnis nach Sinnlichkeit und Sexualität haben.

Wenn sich Nichtbetroffene näher mit der Thematik beschäftigen, wird ihnen schnell bewusst, dass alle Menschen unabhängig von ihren Einschränkungen soziale Wesen sind. Das heißt, dass wirklich jeder Mensch ein Grundbedürfnis nach Innigkeit und Herzenswärme hat und ein empfindsames und sexuelles Wesen ist.

Inklusion meint in den Köpfen der meisten Menschen Teilhabe im Berufsleben oder Barrierefreiheit in der Freizeit. Inklusion bedeutet nichts anderes, als dass jeder Mensch Bestandteil der Gesellschaft sein soll und es keine Gründe gibt, die ihn aus der Gesellschaft ausgrenzen. Wenn aber ein menschliches Grundbedürfnis – Nähe, Zärtlichkeit und Sexualität – unbeachtet bleibt oder gar verwehrt wird, kann von gelebter Inklusion keine Rede mehr sein.

Ein gemeinsamer Ausflug oder eine abendliche Musikveranstaltung alleine befriedigen eben nicht die Bedürfnisse nach Nähe und Zuneigung. Die Aufgaben von Pflegerinnen und Pflegern sind rein versorgender Natur, eine Umarmung schon meist ein persönliches Geschenk der oder des Pflegenden. Aber: Wir erkennen auch den Zwiespalt an: Pflege und Versorgung – darauf beschränkt sich die Aufgabe der Pflege. Doch das Erkennen und Weitertransportieren von Bedürfnissen Betroffener ist in unseren Augen aber eben auch Aufgabe, was jedoch häufig durch vorgegebene Abläufe in den Einrichtungen o.ä. unterbleibt.

Andere Optionen zum Stillen des menschlichen Nähebedürfnisses wie Kuschelroboter sind ebenso wenig echte Alternativen, wie der ausschließliche Einsatz von Tieren als Kuschelersatz. Mögen wir uns alle das unbefriedigende Gefühl vorstellen, wir lägen im Alter da, sehnten uns nach einer innigen Umarmung aber hätten bedingt durch körperliche Gebrechen sehr eingeschränkt Kontakt zur Außenwelt, und als Alternative für Berührungen wird uns ein Kuschelroboter ins Bett gelegt.

 

Was wollen wir?

Unser Verein betrachtet den Menschen ganzheitlich. Wir möchten konkret das Bewusstsein in der Öffentlichkeit dafür schärfen, dass auch Senioren oder Menschen mit Behinderungen selbstverständlich ein Menschenrecht auf Körperlichkeit haben. Konkret ist ein direkter Austausch Betroffener, Kommunikation mit Pflegezuständigen und die Möglichkeit, sich mit den sinnlichen/erotischen Bedürfnissen Betroffener auseinanderzusetzen, das Ziel unserer Tätigkeit.

 

Was tun wir?

Zu unseren Aufgaben gehören:

  • Schaffung von geschützten Begegnungsräumen für Betroffene (z.B. Snoezel-Raum, Kontaktveranstaltungen)
  • Aufklärungsarbeit inklusive Sexual- und Aufklärungsberatung von Betroffenen, teilweise mit Unterstützung dritter Organisationen wie ProFamilia.
  • Aufklärungsarbeit von Angehörigen, die oftmals als einzige Vertreter der Betroffenen das Thema Körperlichkeit nicht im eigenen Aufgabengebiet sehen, dagegen Vorbehalte oder Sexualität im weiteren oder engeren Sinne nicht im Blickfeld haben.
  • Information der Öffentlichkeit, um Bewusstsein für Bedürfnisse Betroffener zu schaffen.
  • politische Arbeit, damit sich in der regulatorischen Grundeinstellung gegenüber Senioren und Menschen mit Behinderung etwas ändert und Bedürfnisse anerkannt und in einem gewissen Rahmen finanziert werden.
  • Hilfestellung für Einrichtungsleitungen und Pflegepersonal bei sexuellen Themen von Menschen mit Behinderung oder Senioren.
  • Ansprech- und Diskussionspartner für gesetzliche Betreuer.

 

Wen sprechen wir an?

Unsere Ansprache richtet sich an eine Reihe von Menschen unterschiedlichster Aufgaben und Eigenschaften:

Die Betroffenen

Unser zentrales Augenmerk liegt auf den betroffenen Menschen, die unter unerfüllten körperlichen Bedürfnissen leiden. Betroffene sind all jene Menschen, die durch eine körperliche oder geistige Behinderung daran gehindert werden, ihr Bedürfnis nach Nähe und Körperlichkeit und Sinnlichkeit auszuleben. Ebenso betroffen sind häufig ältere Menschen, die allein oder in einem Seniorenheim ohne Partner leben. Wir möchten transportieren, dass es keine Behinderung oder Einschränkung gibt, die ein Grund dafür sein könnten, Zärtlichkeit, Zuneigung und Sinnlichkeit nicht erleben zu dürfen oder zu können.

Wir unterstützen Betroffene auf ihrem Weg zu einer selbstbestimmten Körperlichkeit und Sinnlichkeit durch Beratungen und ein offenes Ohr vorbehaltlos gegenüber Art der Behinderung, den Wünschen oder geschlechtlicher Orientierung. Wir helfen Betroffenen dabei, Angebote zu finden, die die eigenen Bedürfnisse erlebbar machen. Ebenso schulen wir Betroffene z.B. unter Zuhilfenahme der Kompetenz von Organisationen wie Pro Familia.

Die Familienangehörigen

„Nein, mein Sohn braucht das nicht!“ oder „Das Bedürfnis nach Nähe bekommt meine Tochter durch das Kuscheln mit den Eltern schon genug gestillt!“

In den Augen der Eltern haben Kinder oft keine Sexualität – dies gilt umgekehrt auch, im Alter erst recht umso mehr. Und so vermissen dann auch Senioren Körperlichkeit und Sinnlichkeit, die ehemals ein erfülltes eigenes Sexualleben hatten, spätestens wenn sie keinen Partner mehr haben. Warum auch sollten die Bedürfnisse auf einmal per Knopfdruck verschwinden?

Wir helfen Angehörigen, die Bedürfnisse ihrer Eltern, Geschwister oder Kinder anzunehmen, und zeigen mögliche Wege auf, wie sie ihren betroffenen Familienmitgliedern bei der Umsetzung der Bedürfnisse helfen können.

 

Heimleitungen und Pflegepersonal

Welche Möglichkeiten Betroffenen in Einrichtungen, ambulanten oder stationären Pflegesituationen offenstehen, hängt sehr stark von dem individuellen Umgang der Heimleitung oder des Pflegepersonals mit dem Thema ab. Wir wollen Heimleitungen oder Heimbetreibern Wege aufzeigen und gemeinsam individuell entwickeln, damit körperliche Nähe sowohl für Menschen mit Behinderung als auch für Senioren tatsächlich umgesetzt werden kann, ohne Abläufe bzw. Zuständigkeiten in Heimen auf den Kopf zu stellen. Auch wollen wir Anleitung geben für Bezugsbetreuer und Pflegende, bestimmte Verhaltensweisen Betroffener zu interpretieren. Bislang werden solche Fälle eher als Problemfälle angesehen und sich nicht selten medikamentös des Problems entledigt.

Nicht selten fällt ein Betroffener mit einem als übergriffig empfundenen Problemverhalten auf. Dies kann jedoch ein Signal darstellen, dass seine Bedürfnisse ungestillt bleiben. Hier könnte man achtsam und im Sinne des Betroffenen dem Verhalten durch geeignete Maßnahmen begegnen.

Die gesetzlichen Betreuer

Gesetzliche Betreuer handeln oft ausschließlich bürokratisch und lassen die emotional-körperlichen Bedürfnisse der von ihnen Betreuten z.B. aus finanziellen Gründen unbeachtet. Wir wollen auch dort den Blick zur Beachtung dieser Bedürfnisse schärfen in der Balance zu anderen elementaren Notwendigkeiten.

 

Die Politik und Sozialversicherungsträger

Die Politik legte über Jahre hinweg ein besonderes Augenmerk auf die Versorgung von Behinderten und Senioren. Auf die sozialen und emotionalen Bedürfnisse wurde zunächst wenig Wert gelegt. Wir begrüßen sehr, dass in den letzten Jahrzehnten ein weiterführendes Umdenken stattgefunden hat – und dennoch machen die Regelungen vor den individuellen Bedürfnissen eines Betroffenen Halt. Im politischen Diskurs wollen wir das Bewusstsein der Politik schärfen, dass es Erweiterungen der aktuellen Regelungen geben sollte, z.B. bei der Frage, welche Kosten die Sozialversicherungsträger bei der Betreuung Betroffener übernehmen müssten. Als Beispiel könnten z.B. Nachbarländer wie die Niederlande herangezogen werden, die einen wesentlich offeneren Umgang mit diesem Thema inklusive Finanzierung pflegen.

Wer sind wir?

Unser Verein hat verschiedene Standbeine und Zuständigkeiten. Für das Thema selbstbestimmte Sexualität im Alter und mit Behinderungen sind zuständig:

Florian Weber, Jahrgang 1967

und Renate Baumann, Jahrgang 1970

Beide sind über persönliche Erlebnisse und Kontakte mit dem Thema Sexualität mit Behinderungen bzw. Erkrankungen in Berührung gekommen und haben festgestellt, dass das eigentliche Thema weder in der öffentlichen noch privaten Wahrnehmung oder in der täglichen Betreuung wirklich überall existent ist. Genau an diesem Punkt wollen beide zusammen mit dem Verein Netzwerk-Begegnung e.V.  ansetzen und sind dankbar für eine neue Heimat in dem Verein.

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